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Gedenken und Erinnerung am Wegesrand

Die Darstellung des gekreuzigten Jesus prägt auch viele Wegkreuze, wenngleich dieses gestalterische Element gegenüber der Gesamtproportion oft etwas mehr in den Hintergrund rückt als bei Kreuzdarstellungen in Kirchen, bei denen der Schwerpunkt in der Regel auf dem Gekreuzigten selbst liegt. Hier zu sehen - jeweils in Nahaufnahme - sind die Jesus-Darstellungen des Pestkreuzes, des weißen Sandsteinkreuzes und des Hagelkreuzes (von links bzw. oben). Fotos: Uwe Rieder

Von Jutta Pitzen

„Das Kreuz des Herrn durchkreuzt was ist und macht alles neu.“ Dieser ebenso schlichte wie radikale Satz entstammt der Feder des katholischen Theologen Lothar Zenetti.

Das Kreuz, in den verschiedensten Kulturgeschichten als Zierform und Symbol beheimatet, steht im Christentum für das Leiden Christi und wurde so zum Sinnbild für Christus selbst. Äußerlich begegnet uns das Kreuz in unzähligen Varianten, und es begegnet uns an unendlich vielen Orten. Viele Christen geben durch ein Kreuz an einer Halskette Zeugnis für ihren Glauben. Wenn uns auch bei so manchem Kreuz als Schmuckstück oder Tattoo Zweifel kommen, wie ernst es dem Träger oder der Trägerin damit ist, wir können nur vor die Stirn unserer Mitmenschen schauen.

In der heutigen Betrachtung geht es um Kreuze, die viele von uns kennen, die uns mehr oder minder häufig am Wegesrand begegnen, denen wir „über den Weg laufen“. Einige sind uns so vertraut, dass wir sie kaum noch wahrnehmen. Alle diese Kreuze wurden von Menschen errichtet. Welche Beweggründe hatten sie dazu?

Sicherlich, das Kreuz ist das zentrale Symbol des Christentums, häufig wird das Jahr 431 mit dem Konzil von Ephesos als Punkt genannt, seit welchem es offiziell als christliches Zeichen gilt.

Wir deuten den vertikalen Balken für die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen, während der horizontale Balken die Verbindung zwischen den Menschen symbolisiert.

Doch das Errichten eines Kreuzes ist häufig gekoppelt an eine Kreuzes-Erfahrung. Kreuzes-Erfahrungen machen alle Menschen, oft sind es Erfahrungen des Schmerzes, des Scheiterns und des Zerbrechens, des Todes. Aber nicht nur am Karfreitag sprechen wir: „Im Kreuz ist Heil, im Kreuz ist Leben, im Kreuz ist Hoffnung.“

Das Wegkreuz am Omperter Weg. Fotos: Uwe Rieder

Vom Kreuz geht eine Kraft aus, die Licht und Leben schafft, es spendet uns Trost, weil es eben nicht das Ende markiert. Für uns Christen wird das Kreuz zum Zeichen der Versöhnung und damit zum Hoffnungszeichen.

„Das Kreuz des Herrn durchkreuzt was ist und macht alles neu.“

Nicht nur, wenn ein Kreuz vor ein Datum gesetzt erscheint, steht das Kreuz in enger Verbindung mit dem Tod. Seit der frühen Neuzeit besteht die Tradition des Grabkreuzes. Als Zeichen des Totengedenkens finden wir Kreuze jedoch nicht nur auf Friedhöfen.

Ein Kreuz am Straßenrand lässt uns wissen: Hier starb ein Mensch im Straßenverkehr. Gerade wenn junge Menschen Opfer eines Verkehrsunfalles werden, errichten oft Verwandte und Freunde ein solches Kreuz, und nicht nur das: sie besuchen es regelmäßig und schmücken es z.B. mit Blumen, unabhängig davon, ob es ansonsten eine religiöse Bindung oder Orientierung in ihrem Leben gibt.

Wir verorten solche Kreuze zur Erinnerung an Verkehrstote in die Zeit seit dem 20. Jahrhundert, doch finden sich in Viersen weit ältere vergleichbare Zeugnisse.

Am Omperter Weg steht in einem breiten Graben, dem ehemaligen Waterweg, ein kleines schlichtes Gedächtniskreuz aus Basaltlava, nicht viel mehr als einen halben Meter hoch. Es wird nur durch Eisenbänder am Kopfbalken und Schaft gehalten.

Die eingetiefte Inschrift lautet: "1785 /DEN /22 /SEPTEMBER /STARB /DER /EHRSAME /JOHAN/ GÖTZKES"

Das unscheinbare Kreuz erinnert also an das Schicksal eines Mannes, der vor weit mehr als 200 Jahren hier starb. Wir wissen nicht mehr viel über ihn, überliefert ist, dass er auf diesem ehemaligen Waterweg von Ompert nach Bötzlöh von seinem eigenen Fahrzeug erschlagen wurde. Eine andere Überlieferung spricht davon, dass er dort ertrank.

Die neutrale Inschrift nennt Johann Götzkes „ehrsam“, es handelte sich also offensichtlich um einen angesehenen, ehrenhaft lebenden Menschen, der plötzlich aus dem Leben gerissen wurde. Wir erfahren weder etwas über sein Lebensalter, noch wird bekannt, wer ihm zu Ehren dieses kleine steinerne Monument errichtete. Waren es Verwandte oder Nachbarn?

Ein ähnlich bescheidenes, noch älteres Gedenkkreuz aus Basaltlava ist am Rande eines Waldweges ganz in der Nähe der Irmgardiskapelle zu finden. Die Inschrift verrät auch hier nicht mehr, als dass am 16. Mai des Jahres 1729 Johannes Steffes verstarb.

Unter der Schrift befindet sich das Motiv eines Totenschädels mit gekreuzten Knochen, wie es oft zu Füßen einer Kreuzesdarstellung oder auf Grab- und Unglückskreuzen zu sehen ist.

Es steht für die Gebeine Adams. Der Kirchenvater Origines führte den Namen „Golgota“ als „Ort des Schädels“ auf den angeblich dort begrabenen Schädel Adams zurück. Christi Kreuz soll demzufolge über dem Grab Adams errichtet worden sein.

Die einsame Lage des Gedenkkreuzes legt die Vermutung nahe, dass es sich auch hier um einen Unglücksfall handelte.

Das Hagelkreuz am Gereonsplatz. Foto Uwe Rieder

Ganz in der Nähe, am Waldrand steht ein weiteres kleines Gedenkkreuz. Am 14. März des Jahres 1791 war die knapp zehnjährige Anna Margaretha Terporten aus Süchteln mit ihrer Schwester und einem Jungen unterwegs nach Boisheim. Sie lief allein voraus, da sie den Weg kannte. Als die beiden anderen Kinder am Ziel ankamen, aber niemand Anna gesehen hatte, begab man sich unverzüglich auf die Suche nach ihr, auch die Nacht hindurch wurde die Suche fortgesetzt.

Am späten Vormittag des nächsten Tages wurde die Leiche des Kindes unbekleidet und durch zahlreiche Messerstiche und Schnitte entsetzlich zugerichtet im Hohlweg am Heiligenberg gefunden. Aus dem Sterbebuch der Pfarre St. Clemens ist zu erfahren, dass auf Grund der Grausamkeit zunächst an einen Ritualmord geglaubt wurde.

Der Mörder wurde im Juli 1791 in Kempen festgenommen und gestand die Tat vor dem Schöffengericht Süchteln. Als einer der letzten Hinrichtungen nach dem alten jülich-bergischen Recht wurde er am 3. Oktober 1791 in Jülich gerädert.

Anna Margarethas Geschichte erregte zu ihrer Zeit erhebliches Aufsehen, weit über die Grenzen Viersens hinaus wurde der Mord an dem kleinen Mädchen bekannt, erhalten ist beispielsweise eine zeitgenössische Druckschrift aus Düsseldorf. Unwillkürlich lässt uns Annas Geschichte an das Schicksal des kleinen Mirco aus Grefrath denken. Auch die zwischen beiden Taten liegenden 200 Jahre ändern nichts an Angst und Sorge wie am Schmerz der Eltern, ändern nichts an unserer Anteilnahme, auch nichts an Wut und Unverständnis über das Handeln des Täters. In einem Interview sagte Mircos Mutter vor wenigen Tagen: „Wir haben Golgota live erlebt.“

Was von Anna bleibt, ist ein kleines, verwittertes Steinkreuz, bis auf Voluten in den Eckzwickeln unverziert. Die Inschrift verweist auf das Geschehene: „A(nno) 1791 den 14. Merz ist Anna Margaretha Terporten alt 9 bis 10 Jahr durch eines Mörders Hand grausamlich umgebracht.“

Auch hier wissen wir nicht, wer das Kreuz errichten ließ. Es hält das Andenken an das kleine Mädchen und an seinen sinnlosen Tod wach.

Gleichzeitig aber gilt für all diese Unglücks- und Gedenkstätten am Wege: Ihre Form, das Kreuz, weist über den Tod der Benannten hinaus. Nicht eine Tafel erinnert an die Opfer, sondern eben ein Kreuz, das Zeichen unserer Hoffnung über den Tod hinaus.

„Das Kreuz des Herrn durchkreuzt was ist und macht alles neu.“

Das Portenkreuz am Pittenberg mit Jahreszahl der Errichtung und dem Namenszug des Portenhof-Besitzers. Fotos: Uwe Rieder

Ebenfalls aus dem 18. Jahrhundert, dem Jahr 1730, stammt das sogenannte Portenkreuz am Pittenberg. Hier gibt das Denkmal Auskunft über die Erbauer, die Besitzer des Portenhofes. In der Zeit der französischen Besetzung aber wurde 1798 per Dekret die öffentliche Verehrung der Kreuze verboten, auch jahrhundertealte Wegekreuze hatten zu verschwinden. In Viersen hatte man es damals nicht allzu eilig mit der Entfernung, so dass noch am 15. August 1802 auf Befehl in St. Remigius eine letzte Kanzelverkündigung verlesen werden musste, die Kreuze wegzuschaffen. Auch die Kreuze von den Kirchtürmen sollten abgenommen werden, doch es fand sich kein Dachdecker, der dazu bereit war. Die französische Regierung begnügte sich daraufhin damit, die Kreuze auf den Türmen durch Hinzufügen von Stäben in Sterne zu verwandeln.

Das Portenkreuz am Pittenberg wurde zerstört. Die Anwohner sammelten jedoch die Bruchstücke ein und vergruben sie am Pittenberg. Nach Abzug der Franzosen 1815 und nach Instandsetzung wurde es auf dem Pittenberg wieder aufgestellt. Vier Meter hoch baut es sich aus drei Zonen auf, das bekrönende Kruzifix ist im Verhältnis zur Gesamthöhe eher klein. Später wechselte das Denkmal zwar noch einmal seinen Standort, aber es blieb bis heute erhalten.

Auch die Geschichte des Portenkreuzes erweckt aktuelle Assoziationen. Wir kennen die Auseinandersetzungen über die Zulässigkeit von Kreuzen in Klassenzimmern, in Gerichtssälen oder im Landtag. Im März erklärte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in letzter Instanz das Aufhängen von Kreuzen in Schulen für zulässig.

„Das Kreuz des Herrn durchkreuzt was ist und macht alles neu.“

Eine Fülle von Kreuzen begegnet uns allein im Viersener Stadtbild. Als Beispiels eines Sektionskreuzes sei das Bockerter Kreuz erwähnt, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erneuerten die Anwohner immer wieder ihr Holzkreuz und ersetzten es schließlich 1927 durch ein Kreuz aus Muschelkalkstein. Noch heute Mittelpunkt des Kreuzplatzes wird es durch die Bruderschaft gepflegt.

Eine ganz andere Geschichte erzählt das weiße Sandsteinkreuz an der Ecke Neuwerker Straße/Heimerstraße. Es wurde 1864 in Erinnerung an die durchgeführte Volksmission errichtet. Eine solche Volksmission, Vorläufer der Gemeindemission, dauerte in der Regel 10 bis 15 Tage und hatte das Ziel, den Glauben in der Pfarrgemeinde zu vertiefen und eine religiöse Erneuerung zu bewirken. Das Missionskreuz sollte diese Tage der Besinnung und Umkehr lebendig halten.

„Das Kreuz des Herrn durchkreuzt was ist und macht alles neu.“

Das weiße Sandsteinkreuz an der Heimerstraße. Fotos: Uwe Rieder

Auch das Hagelkreuz am Rande des Gereonsplatzes blickt auf eine bewegte Geschichte zurück. Erstmals erwähnt bereits im Jahr 1575 steht es vermutlich in Zusammenhang mit einem verheerenden Hagelschlag. Es sollte dazu beitragen, die Menschen und vor allem ihre Ernten vor Unwetter zu bewahren. Jahrhundertelang fanden, wie an vielen Orten, jährliche Prozessionen von St. Remigius zum Hagelkreuz statt, um den himmlischen Segen für die Feldfrüchte zu erbitten. 1798 musste auch dieses Kreuz dem Befehl des französischen Exekutivkommissars weichen, doch nach der Verwaltungsübernahme durch Preußen 1815 wurde ein neues Hagelkreuz errichtet. Es wechselte seinen Standort, verlor 1945 seinen Corpus, doch dieser wurde rasch ersetzt, und heute ragt das 6,50 m hohe Kreuz wieder an seinem ursprünglichen Platz auf.

Viele Viersener kennen das Pestkreuz am anderen Ende des Gereonsplatzes an der Einmündung der Gladbacher Straße. Der Infektionskrankheit der Pest, dem „Schwarzen Tod“, standen die Menschen noch vor 300 Jahren machtlos gegenüber. Zwischen 1618 und 1620 starben allein in Viersen rund 1.000 Einwohner, ganze Familien wurden ausgelöscht. Alle Priester von St. Remigius starben damals, nachdem sie sich bei Versehgängen angesteckt hatten, ebenso zwei zur Unterstützung bereite Priester aus Sonsbeck.

Dennoch erinnert das Pestkreuz nicht allein an das Leiden der Menschen. Im Haus Neumarkt 27 starb Ende September 1620 der letzte Pestkranke. Die Gemeinde zog am Montag nach dem Remigiustag in einer Dankprozession dorthin und errichtete vor dem Haus ein Kreuz. Gleichzeitig legte sie das Gelübde ab, diese Prozession alljährlich zu wiederholen. Dies geschah auch bis zum Verbot 1798 und der Entfernung des Kreuzes. Doch auch hier wurde 1815 sogleich ein neues Holzkreuz errichtet, 1857 ersetzt durch ein steinernes neugotisches Monument, vom Kölner Dombaumeister Vincenz Statz entworfen.

Noch viele Viersener Kreuzgeschichten gäbe es zu erzählen: „Das Kreuz des Herrn durchkreuzt was ist und macht alles neu.“

Einzelschicksale, Glaubenszeugnisse, Mittelpunkte der Gemeinden, Kreuze aus Dankbarkeit errichtet oder im Flehen um Schutz und Beistand: So uralt wie diese Kreuze und gleichzeitig so mitten in unserem Leben verhaftet sind auch die Geschichten, die sich um sie ranken. Angesichts einer Epidemie wie der Pest des 17. Jahrhunderts erscheinen uns viele unserer Alltagsprobleme und -sorgen klein und nichtig.

Das Kreuz mit der eisernen Hand. Foto: Uwe Rieder

Ein besonderes Viersener Kreuz soll jedoch noch Beachtung finden. Die Legende vom „Kreuz mit der eisernen Hand“, sicherlich fernab vom wahren Ursprung dieses Kreuzes, erzählt eine merkwürdige Geschichte: Beim Neubau der zu klein gewordenen Pfarrkirche entbrannte in Viersen ein Streit in der Bevölkerung über den Standort. Im „Hüster-Felde“ trugen die Anwohner Materialien zum Bau einer eigenen Kirche zusammen. Während der Nacht aber ließ scheinbar auf geheimnisvolle Weise eine mächtige Hand immer wieder die Steine zum Ort der heutigen Remigiuskirche schweben, so dass die Gemeinde sich schließlich versöhnte und dort gemeinsam baute.

Die Legende um das Kreuz mit der eisernen Hand scheint wie für unsere Gegenwartssituation erfunden. Die Gedanken, Wünsche, Sorgen und Ängste der Menschen sind damals wie heute offensichtlich ähnlich, Misstrauen und Zweifel gleichermaßen. Damals wie heute bedarf es vielleicht der „eisernen Hand“ von oben – und zwar von ganz oben -, die uns den Weg weist. Und es bedarf des Gottvertrauens, gewiesene und eben manchmal auch unausweichliche Wege zu gehen.

Für die Schulausstellung des letzten Jahres in der Städtischen Galerie beschäftigten sich Schülerinnen und Schüler der Gereonschule mit dem Kreuz mit der eisernen Hand und seiner Geschichte. Sie erfanden das Kreuz am Ende neu: Jedes Kind gestaltete plastisch eine Hand und fügte sie der Baustelle und dem Kreuz hinzu. Fazit der Kinder: „Es braucht viele Hände, um etwas Neues zu gestalten.“

Als der Münchner Erzbischof Kardinal Reinhard Marx kürzlich nach Kirchenkrise oder Glaubenskrise befragt wurde, antwortete er, wie wichtig es, den Menschen nahezubringen, „dass der Glaube ein Qualitätssprung ist, eine Lebensbereicherung, eine Horizont-Erweiterung, das größte Abenteuer des menschlichen Geistes, und dass diese Öffnung am besten in der Gemeinschaft des Volkes Gottes geschehen kann.“

Unsere Gemeinschaft findet sich zusammen unter dem Kreuz, dem Symbol, das uns verbindet, es ist viel stärker als alles Trennende.

„Das Kreuz des Herrn durchkreuzt was ist und macht alles neu.“